Widerstand in der Gegenwart: Irmela Mensah-Schramm

Seit mehr als 35 Jahren entfernt Irmela Mensah-Schramm deutschlandweit rechtsradikale Hass-Botschaften aus dem öffentlichen Raum. Ihre Arbeit dokumentiert sie akribisch. In mehr als 120 schweren Aktenordnern sammelte die 75-jährige Berlinerin Tausende Sticker und Graffiti, die nicht nur einen Rückblick in die „Baseballschlägerjahre“ der Nachwendezeit liefern, sondern auch die Neuzeit abbilden.

„Die Notizen von Mensah-Schramm sind ein Stück Zeitgeschichte“, schrieb DER SPIEGEL, welcher der ruhelosen Aktivistin im Februar diesen Jahres einen mehrseitigen Artikel widmete. „Sie zeigen nicht nur, wie allgegenwärtig der Rassismus in Deutschland ist, sondern auch, wie viele daran achtlos vorbeilaufen.“

„Begonnen hat es damals mit einem Schlüsselerlebnis“, erzählt Irmela in einem Interview mit Jan Tessin, der die Dame Anfang Mai in Malchin für den städtischen Radiosender interviewen durfte. „Vor ca. 35 Jahren entdeckte ich einen Sticker an der Bushaltestelle vor unserem Haus. Darauf stand ‚Freiheit für Rudolf Heß!‘. Ich wusste natürlich, wer Heß war. Hitlers Stellvertreter. Diesen Aufkleber habe ich dann irgendwann nach Dienstschluss abgekratzt und hatte dabei ein irre gutes Gefühl. Jetzt ist er weg, der geistige Dreck, ging mir durch den Kopf. Und ich dachte: Wenn du das nicht tust, wer tut es dann? Mit Nichtstun kann man schließlich nichts erreichen.“

Rudolf Heß – Hitlers Stellvertreter – lebte damals noch und war nur wenige Kilometer entfernt im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis inhaftiert. Er war einer von vierundzwanzig Angeklagten im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Heß wurde im Oktober 1946 in zwei von vier Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. 1987 starb Heß im Kriegsverbrechergefängnis Spandau durch Suizid. Neonazis aus ganz Deutschland verehren den Kriegsverbrecher bis heute wie einen Märtyrer. Das Heß-Konterfei findet sich auch heutzutage immer wieder auf Stickern im öffentlichen Raum.

Irmela lebt mit ihren beiden Katzen in einer gemütlichen Dachgeschosswohnung im Südwesten Berlins. Sie ist mittlerweile 75 Jahre alt, aber immer noch rastlos. Ihr herzliches, freundliches Wesen vereinnahmt die Menschen, die sie zum ersten Mal treffen. In den Medien wird sie immer wieder als „Sprayer-Oma“ bezeichnet, doch Irmala hat keine Kinder und somit auch keine Enkel.

Und doch schart Irmela gerne Kinder und Jugendliche um sich, zum Beispiel, wenn sie an Schulen einen ihrer Workshops „Mit bunten Farben gegen braune Parolen“ anbietet. Hier lernen Kinder auf künstlerische Weise, wie sie widerlichste Hassbotschaften aus ihrem Leben verschwinden lassen.

Das Entfernen von rassistischen und rechtsradikalen Inhalten im öffentlichen Raum ist für Irmela zur Lebensaufgabe geworden. Oftmals sucht sie gezielt Orte auf, an denen sie kurz zuvor menschenverachtende Schmierereien – rechtlich gesehen, rassistische Straftaten – entdeckt hat. Seit Jahren entfernt sie Aufkleber von DVU, NPD, AfD, der Identitären Bewegung, des Dritten Weges (III.) und ähnlichen Gruppierungen. Und immer wieder auch Aufrufe zum „Nationalen Widerstand“.

Früher setzte sie sich nach Feierabend oder am Wochenende in den Bus oder die Bahn, doch seit sie Rentnerin ist, ist sie bis zu viermal pro Woche unterwegs. „Ausländer raus“, „Rudolf Heß lebt“ oder ganz widerwärtige Aussagen wie „Ausländer rein in die Gaskammer“: Irmela weigert sich, diesen „geistigen Dreck“, wie sie ihn nennt, im Straßenbild zu belassen: „Die Urheber des gesprühten Hassdenkens sind gewiss nicht die Stärksten der Gesellschaft. Sie sind zumeist manipulierbar und daher beeinflusst von den geistigen Brandstiftern, die in der Politik, ja der Regierung und auch den Bildungseinrichtungen nationalsozialistisches Gedankengut verbreiten.“

Der Hass hat sich nicht verändert, sagt sie. Allerdings verpacken die Faschisten der Neuzeit ihre Botschaften „bürgerlicher“ und mit mehr Deutungsspielraum. Es gleicht einem Katz-und-Maus-Spiel mit den Verfassungsschützern. Der Staat scheint hilflos, zumindest im öffentlichen Raum. Zahlreiche Hassbotschaften prägen die Stadtbilder meist über Jahre. Irmelas Archiv dokumentiert das eindrucksvoll. Es zeigt Bilder eines wiedervereinten Deutschlands, in dem Rassismus, Antisemitismus und rechter Hass so alltäglich sind. „Ihre Ordner sind auch die Chronik ihres persönlichen Kampfes, der sie seit Jahrzehnten durch ein Land führt, in dem die einen Hakenkreuze an Wände sprühen und die meisten anderen daran achtlos vorbeilaufen.“, schrieb es der SPIEGEL.

„Wer von Asylflut redet, hat Ebbe im Gehirn“. Irmela Mensah-Schramm nutzt jede Möglichkeit, sich mitzuteilen. Die Angst vor Übergriffen ist dabei ständiger Begleiter. Widerstand in der Gegenwart: Irmela Mensah-Schramm Irmela ist schon längst keine Unbekannte mehr. Auf ihren Reisen wird sie von vielen Menschen erkannt. Sie erhält Zuspruch, wird auf Selfies verewigt und dabei immer wieder ermutigt, weiterzumachen.

Doch es gibt sie, die Schattenseiten. Dann wird Irmela beschimpft, bedroht oder angezeigt. Zuletzt von einem AfD-Kandidaten, den sie am Rande einer Veranstaltung angeblich beleidigt haben soll. Schlappe 600 Euro sollte sie zahlen. Natürlich hat Irmela Widerspruch eingelegt – und gewonnen. Ihr Freispruch wurde im Internet tausendfach gefeiert.

„Zivilcourage darf nicht bestraft, sondern sollte belohnt werden!“, schrieb es Gerhard Rahn, Irmelas Verteidiger, nach der Urteilsverkündung auf Facebook.

Das sieht man allerdings nicht überall so. Vor allem den deutschen Ordnungsbehörden geht Irmelas Engagement zu weit.

Erst im Oktober 2019 wurde sie vom Amtsgericht Eisenach wegen Sachbeschädigung verurteilt: Sie hatte es tatsächlich gewagt, den Schriftzug „Nazi Kiez“ an einer Hauswand mit einem großen roten Herz zu übersprühen. Unfassbar. Als wäre die Sache nicht ohnehin schon beschädigt gewesen.

Es sind diese und ähnliche Anekdoten, die Irmelas Zuhörer*innen meistens fassungslos zurücklassen. Wie kann das sein? Wie kann die deutsche Justiz auf dem rechten Auge blind sein, sich aber gleichzeitig an einer älteren Dame abarbeiten, die unserer Gesellschaft mit ihren „Korrekturen“ tatsächlich einen großen Dienst erweist? Eine ältere Frau, die nicht mehr und nicht weniger tut, als Hassbotschaften aus unserem Alltag zu entfernen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Irmela Mensah-Schramm im Namen des Deutschen Volkes verklagt wird, während rechte Schläger und Mörder teilweise mit geringen Strafen davon kommen. Es ist nicht zu begreifen, dass Irmela Mensah- Schramm als Intensivtäterin gilt, während zur gleichen Zeit Parteien des Landes um ihre Gunst buhlen, sie auf Veranstaltungen einladen, ihr Preise verleihen und sich mit ihr für die Presse ablichten lassen.

Ein Fazit will Irmela nach all den Jahren des aktiven Widerstands nicht ziehen. Es gebe kein Fazit, sagt sie. Außer, dass es eben nie ende. Vielleicht erinnern sich die Menschen irgendwann einmal: „Da war mal eine Frau, die hat gegen die Nazis gekämpft.“

Am 9. Mai hätte Sophie Scholl (1921-1943), die wohl bekannteste Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus und wichtige Symbolfigur für Zivilcourage und politisches Engagement im Hitlerdeutschland, ihren 100. Geburtstag gefeiert.

Anlässlich dieses Ehrentages sollten unter dem Motto „Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl – MV diskutiert über Widerstand“ Veranstaltungen an verschiedenen Orten in Mecklenburg-Vorpommern stattfinden. Aufgrund von coronabedingten Kontaktbeschränkungen mussten die Termine aber zunächst verschoben werden.

Lediglich die Auftaktveranstaltung – die Eröffnung der Ausstellung „Hass vernichtet!“ von und mit Irmela Mensah-Schramm – fand wie geplant am 1. Mai 2021, wenn auch ohne Publikum, statt.

Die letzte Hoffnung der Veranstalter, die Ausstellung am Pfingstwochenende zumindest im Rahmen von „KunstOffen 2021“ öffentlich zeigen zu können, erfüllte sich nicht, denn auch die Kunstaktion wurde aufgrund aktueller Kontaktbeschränkungen landesweit abgesagt.

Da mit den Beschränkungen seit Monaten zu rechnen war, wurden mit Irmela während ihres Besuches Interviews geführt, Fotos gemacht, Videos rund um die Ausstellungseröffnung gedreht und sogar ein belgisches TV-Team auf dem Projekthof empfangen. Die so entstandenen Inhalte sollen in den nächsten Wochen online zugänglich gemacht werden.

Die Veranstaltungsreihe „Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl – MV diskutiert über Widerstand“ ist eine Kooperation zwischen dem Peter-Weiss-Haus und acht weiteren Institutionen und Vereinen.