Tobrügg. Reet. Falafel. – Come un’ora fa

„Ik weet mi nich to laaten,
Mi is de Dag to drang,
De Nacht will mi nich faaten,
De Slaap is Övergang.

Mi is, as weer ik draagen
Un dräg doch sülven swaar;
Ik laat nich naa mit Fraagen
Un swieg doch ganz un gaar.

Müch bit ton Heven roopen —
Un daalschree’n in de Eer
Un finn doch nich tohoopen
De Hartsläg un de Wöör.

Mi is von Leev un Leven
De Dag so drang un hooch:
Hier is mien Höll, mien Heven,
Un Paradies genoog.“[1] 

Bitte einen schwarzen Tee? — … — Dort aus dem Sud in der Blechkanne. — Oh,… Wir machen nur grünen Tee, Apfeltee. Schwarztee, das machen dir die Türken und die Kurden. — Woher kommen Sie? — Armenien, habe das Dönergeschäft hier gelernt. In Armenien machen wir Fladen, direkt am Feuer. — In Armenien… … habt ihr die Duduk [2]. — Ja, jeder kennt Duduk, das war auch in dem Film, Gladiator. Mein Sohn hat eine im Internet bestellt, er sagt, bin ich Armenier, lerne ich Duduk. Bist du Musiklehrer oder was? — Nein, ich interessiere mich. Besser als die Konflikte. — Ja, Musik ist die gemeinsame Sprache der Welt.

Freundschaft ist, jetzt in die Ferne blickend zu schweigen. Unter dem Dach aus Baumarkt-Reet. Hat die Duduk Heimat in das neue Land gebracht, hinzugefügt?

Eine Täuschung, die Zeit! Aufwand und Kraft, das Holz zum Klingen zu bringen, den Handschmeichler. Schoß der Mutter, Atem des Alten, Geborgenheit. Heimat  — ach… — Unter der Musik liegt ein Klangteppich des Kaliforniers Hans Zimmer, geschrieben für einen Dreh in Marokko.[3]

Duduk schweigend. Aus Reet das Mundstück. Reidpiep. Riedfläut.[4] Der Anfang ein Wort. Zwischen den Worten Heimat. Die geträumte Braut ein Land. Liebe oder Kampf. Wullt dat een du faaten muß d´ dat anner laaten[5]. Der erste Ton teilt die Welt. Zähl bis 4.[6] Schließ’ deine Augen zu. Lichtgeschwindigkeit geträumt. Der Leib braucht ein Halbjahr. 5 Kurszeiten.[7] Zähl bis 4, nochmal. Dann ein Leben lang. — Ach…

Dieser Ton heilt die Welt. 87 Jahre Leben lang. Wodka. Das Bild des Helden unter dem Eis. Ffffffüuüuüuüuüuüu….hhhh

Tobrügg hat keinen Suchmaschineneintrag. Sprich es aus. In Teterow, inmitten des Landes, im  Buchgeschäft der Stadt, in der Kiste vor dem Laden, unscheinbar, findet sich das Wort. Die Brücke aufeinander zu: Neu sprechen, neu hören, neu beginnen. Dem Klang des Herzens folgen – im Osten, hier = nah, mittel und fern. Neu beginnen. Die Warmherzigkeit der Sprache, Klipp- und Klarheit schafft Vertrauen. Gemeinsam ein Gespräch entwerfen, beginnen – mit Wortmelodien, die Liebe und Herz (auch den Schmerz, jetzt Dreivierteltakt) schon in sich tragen.

Die Erfahrung, dass die Distanz zum Plattdeutschen für viele in M-V Heimische womöglich ebenso groß oder größer ist, als etwa zum Englischen und anderen populären Kulturen, die Vergleichbarkeit des persönlichen Aufwandes zur Annäherung an historisches (…plattdeutsches) und zeitgenössisches kulturelles Anderssein, könnte durch die Verbindung beider Erlebnisbereiche im Plattdeutsch-Neu-Lernen Chance sein, Selbst-Bewusstsein und Verständnis für das Fremde auf demselben Weg zu finden. Im gemeinsamen Verstehen (lernen) entstehen gemeinsame Bilder.

Mit der ersten Linie hört das Denken auf. Handbewegungen in Echtzeit. Unbedacht. Flüsternd.
In 67 Linien ein Tier. Am Postmoor grasend. Schlendernd verschwindend: Christian Kabuß:  Sien Kauh. Ausstellung Wege zur Schlichtheit 16: Hishiryo – das Denken aus dem Grunde des Nicht-Denkens, 30.05.2020-26.07.2020, Eröffnung am 30.05.2020 um 14 Uhr. Ein Heimatbild in fernöstlichem Kontext in einem ehemaligen Gutsschloss und -park, dessen Umgestaltung zum japanischen Kulturzentrum und Hain der mecklenburgisch-japanische (Musik-)Maler (und Komponist) Prof. Heinrich Johann Radeloff der Liebe seines Lebens widmete: Mitsuko, die japanische Gedichte wie weit tragende Tonfolgen zu lesen versteht. Die Stimme der Freundin nimmt sie auf, die Gitarre mischt sich ein. – Margot jedoch, in Schlesien geboren, singt mit mit voller Kehle vom Schlachtefest bei Herrn Pastuurn.

Mit dem ersten Ton hört das Denken auf. B. trägt zur Klavierbegleitung vor. ___/\..\/__ …

Musik lässt sich in ihrer notierbaren Struktur, die für Tonhöhen, Lautstärken, zeitliche Parameter und all ihre Zusammenhänge steht, reproduzierbar nach einem Regelwerk und dabei verallgemeinernd, für viele gültig, darstellen. Eine bildhaft beeindruckende Musiknotation.
Iannis Xenakis hat so komponiert und gebaut. — Nein, sagt B., die aus China stammt, Musik ist ist nicht berechenbar, ist immer pures Gefühl des Einzelnen. — Die Vielfältigkeit der Künstler-Bildsprachen eines Videoprojektes zum Beethovenjahr[8] spricht für diese Variabilität und Unfassbarkeit, Erhabenheit, da stimme ich zu. Das gemeinsame Bejahen dieser wunderbaren Animationen, der Einklang mit dem Betrachter-Hörer, den viele der Intuitionen schaffen, lässt das Gemeinsame in Musik und Bild aufscheinen, das Menschen nah wie fern im Osten verbindet.

Ohne Kenntnis des Liedtextes, auch die Sprache als Musik wahrnehmend, habe ich dem chinesischen Chanson eine sanft-eindrückliche Form gegeben, die zwar auf  Struktur-vorstellungen von Musik beruht. Die (unbewusste) Ausdrucksbewegung der Hand geht jedoch  darüber hinaus – schwebend, eintauchend, wie unter Wasser, wurden die Grundzusammenhänge malerisch entwickelt. China Underwater. — Es ist noch nicht entschieden, sagt B. — Ich male weiter!  Aufstrebende und absteigende Klänge, punktuelle Einschübe, lang gehaltene Endsilben: jetzt mit chinesischem Pinsel Figur für Figur in einem Zug. Auf grobem Papier. Aus musikalischen Figuren werden Zeichen, die Einvernehmen schaffen wollen; erlernbar, vertiefbar wären.

Einvernehmen erleben, Synthesen vereinbaren. Freundschaften bilden: Musikmalerei ist ein Experimentierfeld. Luai bringt Sicht aus dem Irak. Iris knüpft frische neue Hoffnung ein. Gemeinsam feiern wir ein Fest.

— Un denk eins an Platt, ook Platt kann dat. Das Fremd gewordene liefert durch die über Jahrhunderte in Einvernehmen wahr gewordenen Wortbedeutungen, einen Code mit, sich über Gefühltes (Herzwärme, Bildhaftigkeit) zu einigen. Şiyar, häb de Knie, danz mit mi. Zhang Hui, sät di dal, sing einmal. Rodrigo, nimm de Fläut, Sang is …hüüt.

Platt snacken, [mit Abdulaziz] Falafel äten. Musik malen.

Um denen Mut zu machen, die erste Schritte auf die Kunst zugehen, erzähle ich manchmal mit Niklas Luhmann eine Schöpfungsgeschichte für die Malerei: Die erste Linie teilt die Leinwand, die Welt, trifft die erste Unterscheidung, erzeugt schon das Bild.[9] Dann gilt es, „nur noch“ darauf zu reagieren, das Werk zu entwickeln, sich auf eine Kommunikation in Bildlichkeit hinein einzulassen. Eine Versicherung: Wege sind nie verloren, sondern machen – im Zurück-Finden, im Sich-Verlieren – das Werk reich.

991[10] kennt vieler solcher [nicht] verlorenen Wege. Berührungen. Geschichten, die weiterzugehen versprechen: Das Wandbild im Senioren-Wohnpark nach der Zeit der Kontaktbeschränkung, die Bank am Hinkelstein für die Begegnung im Sommer, Konzert mit dem Jazzprojekt Hundehagen. Deutsche Abendlieder in fernen Sprachen, vice versa. Ein Kinderfest mit Drehorgel. Dige Dire,  Come un’ora fa.[11]Bill Wells einladen. Mit Johann schnacken, so lange es geht.

Es wird das [nicht] Verlorene sein, das Geschichten fortspinnt. So ist 991 Geschichte.

Kontakt
Christian Kabuß
kontakt@pianodornement.de

Christian Kabuß, 11.02.2021

[1]Johann D. Bellmann: Wo denn hin mit mi? In: Inseln ünner den Wind. Gedichte un Leeder, Rostock 1995, S. 10; Bellmann strebt ausgehend von seiner Nindorfer Mundart ein nordniedersächsisches Platt an (ebd. S. 188). Die Wahl des Gedichtes hängt mit dem Fundort einer Remittende im Herzen Mecklenburg-Vorpommerns zusammen, mit enger Geschichts- und Sprachverwandtschaft und schließlich der Sichtweise, die dieser Text entwickelt. Auch das im Titel verwendete „Tobrügg“ ist aus diesem Kontext, s. Fußnote 6

[2]Typisch armenische Kurzoboe mit großem Doppelrohrblatt

[3]S. https://www.youtube.com/watch?v=iK5Yh85Hbcc, abgerufen am 30.11.202

[4]Versuche in Platt, vgl. Englisch reedpipe, dort aber doppeldeutig für auch für Orgelpfeife.

[5]Johann D. Bellmann: Keen Tobrügg, a.a.O. S. 165

[6]Chinesisches Kinderlied

[7]S. https://www.musikschule-basel.ch/de/musik-der-kulturen/kurse/3095x.html, abgerufen am 17.11.2020

[8]S. https://www.ndr.de/ndrkultur/Medienkuenstler-visualisieren-Beethovens-Musik,augenaufbeethoven100.html, abgerufen am 25.Oktober 2020

[9]Nach Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990

[10]Code für das hier vorgestellte Musikmalerei-Projekt 9 Lieder – 9 Tafeln – 1 Fest. Ein Netzwerk aus Musik und Freundschaft. Oft auch #9c9b1f (ein Farbcode) für 9 Chansons, Canzoni, Choräle – 9 Bilder – 1 Fest.

[11]Lieder aus Afghanistan und Italien